Montag, 15. Oktober 2012

Kommentar: Ein nobleres Verständnis der menschlichen Natur

                                          Was bisher geschah

Dr. Mannheimer*
          Sehen wir uns die klassischen Vorstellungen davon an, was der Mensch über den Menschen gedacht hat, so ist das, was wir über uns selbst und unser angeblich „wahres Wesen“ auszusagen hatten alles andere als ein Ruhmesblatt. Hatten die alten Griechen noch ein nobleres Verständnis von sich selbst, sofern sie männlich und gebildet waren, ebenso wie die Römer, sofern sie der Aristokratie entsprangen, so wurde mit den Unterwerfungsreligionen, zu denen auch das Christentum gehört, ein ängstlicher orientalischer Sklavengeist über Europa gestülpt, der den Menschen als von Natur aus sündhaft und damit als schlecht ansah. Nicht nur Nietzsche verabscheute diese alte Sicht des Menschen; doch er selbst wollte nur einigen wenigen ein besseres Wesen zugestehen und schloss sich, trotz aller Kritik, den Pessimisten und Schuldpredigern an, die im gemeinen Menschen nicht mehr zu vernehmen vermochten, als dass er als Humus für einen höheren Menschen dienen sollte, der erst noch im Entstehen begriffen war und dessen Vorläufer einige wenige Lichtgestalten der menschlichen Geschichte bildeten.

            Modernere Interpreten, wie etwa Sigmund Freud, sahen als die wesentlichen Bestrebungen des Menschen Aggression und Sex an: ebenso wenig etwas, das uns zum Ruhme gereichen würde. Sein von ihm abgefallener Schüler Alfred Adler erblickte im Minderwertigkeitsgefühl einen wesentlichen Teil der menschlichen Natur.

            Wie immer man auch an die Frage nach dem wahren Wesen des Menschen herangehen mag, es ist diese eine außerordentlich schwierige Frage, nicht nur deshalb, weil der Betrachter selbst ein Mensch ist und man ihm insofern ein gewisses Maß an Befangenheit vorwerfen könnte. Wir alle sind Teil der Zeit in der wir leben und so ist auch unser Menschenbild zeitgebunden. Was das Wesentliche des modernen Menschen darstellt, ist paradoxerweise gerade vom modernen Menschen selbst nicht erfassbar, egal wie klug er oder sie auch sein mag. Es wird der Geschichte überlassen sein ein brauchbares Urteil über den Menschen von heute zu fällen. Die Frage nach der Natur des Menschen an sich ist jedoch eine andere und sofern es in diesem Wesen eine Entwicklung gibt, wovon ihm Rahmen der Evolution in jedem Fall auszugehen ist, so scheint sie doch sehr langsam voranzuschreiten, so dass wir davon ausgehen können, dass der historische Menschen, also jener Mensch, wie wir ihn seit den frühesten Aufzeichnungen der Geschichtsschreibung her kennen (seit etwa 5000 Jahren) sich im Wesentlichen nicht verändert hat und deshalb auch mit Fug und Recht auf alles uns vorliegende Material zurückgreifen können, das uns vorliegt, um diese entscheidende Frage zu beantworten oder eine Antwort nahe zu kommen.

So sehen wir durch die Geschichte hindurch das bereits oben geschilderte negative Menschenbild, das sich traditionell, ebenso wie das Weltbild aus dem Metaphysischen ableitet. Unter dieser Grundlegenden Voraussetzung spielt es keine Rolle, ob wir es mit einer monotheistischen, einer polytheistischen oder eine Naturreligion zu tun haben. Wenngleich nicht alle traditionellen Menschenbilder negativ waren, so beruhte doch keines auf der Wissenschaft, wie wir sie im modernen Sinne verstehen. Die Natur des Menschen war mehr den Vorstellungen, den Mythen und der Philosophie vorbehalten und stütze sich, wenn überhaupt nur selektiv auf empirische Studien. Auch die Wissenschaft blieb lange Zeit in dem Fahrwasser, dass ihr von den geistigen Strömungen der Tradition vorgegeben war und wagte sich nur allmählich ins Neuland der Erkenntnis vor. Es war einfacher und auch weniger gefährlich im sozialen Sinne, sich mit der toten Materie zu beschäftigen, allenfalls noch mit Tieren und Pflanzen, als sich dem Menschen in seiner ganzen Fülle zu nähern. Gedanken und mehr noch Gefühle galten lange Zeit als chaotisch, konfus und schwer zu erfassen. Exakte Wissenschaften scheuten davor zurück und man überließ es vorerst weiter den Philosophen und Medizinern und später auch den Psychologen sich damit zu befassen. Es ist erstaunlich wie wenig sich der Mensch um den Menschen gekümmert hat, möchte man doch meinen, dass er doch mit Montaigne längst erkennen hätte müssen, dass es kein interessanteres, herausforderndes Studium geben könnte, als eben jenes von uns Menschen! Dunkel war darum eben auch das Menschenbild, von Mythen und Aberglauben durchsetzt. Doch mit dem Voranschreiten und dem schwindenden Einfluss der Religionen, kam mehr Licht in die Natur des Menschen und verbesserten sich auch sukzessive die Bedingungen des menschlichen Lebens.

Bereits in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts hat der große österreichische Mediziner und Psychoanalytiker Wilhelm Reich eine Theorie über die Natur des Menschen auf gestellt und ihn als ein Wesen aus drei Schichten beschreiben:
An der Oberfläche trägt er die künstliche Maske der Selbstbeherrschung, der zwanghaft unechten Höflichkeit und der gemachten Sozialität. Damit verdeckt er die zweite Schicht darunter, das Freudsche „Unbewusste“, in dem Sadismus, Habgier, Lüsternheit, Neid, Perversion aller Art, etc. in Schach gehalten sind, ohne jedoch das Geringste an Kraft einzubüßen. Diese zweite Schicht ist das Kunstprodukt der sexualverneinenden Kultur und wird bewusst meist nur als gähnende Leere und Öde empfunden. Hinter ihr, in der Tiefe, leben und wirken die natürliche Sozialität und Sexualität, die spontane Arbeitsfreude, die Liebesfähigkeit. Diese letzte und dritte Schicht, die den biologischen Kern der menschlichen Struktur darstellt, ist unbewusst und gefürchtet. Sie widerspricht jedem Zug autoritärer Erziehung und Herrschaft. Sie ist gleichzeitig die einzige reale Hoffnung, die der Mensch hat, das gesellschaftliche Elend einmal zu bewältigen. (Wilhelm Reich, „Die Entdeckung des Orgon – Die Funktion des Orgasmus, Kiepenheuer & Witsch, 9. Auflage 2009, S. 175f).

Reich geht also von einer Dreiteilung aus. Die oberflächliche Schicht, die der Mensch seinen Mitmenschen zeigt, ist wohlbekannt und seit jeher als „Maske“ oder „Schauspiel“ durchschaut worden (Goethe und Shakespeare sahen gleichermaßen im Menschen einen Schauspieler, der auf der Bühne des Lebens viele Rollen spielt). Mit Freud kam die Aufdeckung der darunter liegenden Schicht, die Übel und allerlei Ekelhaftes ans Tageslicht brachte, all jene Dinge, die die Menschen nicht sehen wollten. Im traditionellen Sinne hätte man diesen Bereich als „Sünde“ bezeichnet. Was jedoch das besondere Verdienst Reichs war, war, dass er tiefer grub als Freud, dass er nicht beim „Unbewussten“ haltmachte, sondern darunter eine Natürlichkeit und Bescheidenheit entdeckte, die unerschütterlich ist und die alles vergessen macht, was der Mensch darüber gelegt haben mag.

            Die Humanistische Psychologie hatte einige bemerkenswerte Erfolge, gerade ab den späten 50er Jahren vorzuweisen. Doch nicht allzu selten sah sie sich polemischen Vorwürfen ausgesetzt, sie sei oberflächlich und würde im Grunde nur ein Art Psychomarketing darstellen, ein geschickter oder in manchen Fällen ein nicht ganz so geschickter Versuch, im psychischen Bereich den Menschen das gute Leben zu verkaufen, wie es die Wirtschaft auf der materiellen Ebene täte. Nichtsdestotrotz haben sich einige herausragende Forscher wie etwas Eric Berne und Abraham Maslow damit beschäftigt, was der Mensch sein könnte. Sie entwickelten Konzepte, die fern der traditionellen Lehre, die sich vor allem mit der dunklen Seite des Menschen, mit dem Guten, mit dem Potenzial von uns allen beschäftigte und uns eine Vorstellung davon gegeben was ein freier, selbstbewusster glücklicher Mensch sein könnte. Abraham Maslow etwa beschreibt in seinem einzigartigen Werk „Motivation und Persönlichkeit“ Menschen, die es tatsächlich zu einem Maß an Erfüllung gebracht hatten, das weit jenseits dessen lag, was dem Normalbürger auch nur im Geringsten im Bereich des Möglichen erscheinen musste.


Einflüsse von außen
          Auch im Buddhismus gibt es die Ansicht, dass das Böse keine eigentliche Entität sei, kein Gegenpol zum Gutem, sondern das verkrüppelte Gute. Wenn das Gute sich nicht entfalten kann, weil ihm sein freies Aufblühen verwehr wird, dann degeneriert es und tritt uns als das entgegen, was wir als Böse bezeichnen. Es deutet immer mehr darauf hin, gerade aus der modernen Wissenschaft, und hier sei besonders die Quantenphysik genannt, dass die fundamentale Wahrheit aller Dinge eine Einheit und kein Dualismus ist. Dem Guten steht kein Böses entgegen, dieses ist nämlich nicht aus sich selbst heraus existent, sondern lediglich eine fehlgeleitete gute Absicht (übrigens ist auch das Christentum keine dualistische Religion. Gott herrscht alleine, es gibt keinen Gegenspieler, wie etwa den Teufel. Solches zu behaupten wäre manichäisch, nicht christlich). Man erkennt hier gerade auch den positiven Einfluss, den nichtwestliche Kulturen auf unseren Geist haben können, wie sie dazu beitragen können ein umfassenderes Verständnis der menschlichen Natur zu entwickeln.

Es gibt ja bekanntlich die Metapher vom Elefanten, der von einer Gruppe von Blinden befühlt wird und über den jeder eine andere Aussage macht. Der eine konzentriert sich auf die dicken Beine und meint ein Elefant bestünde aus dicken Beinen. Ein andere befühlt die riesigen Ohren und ist demzufolge davon überzeugt Elefanten hätten im Wesentlichen große Hörorgane. Wieder ein anderer meint Elefanten seien vor allem fest und glatt und hätten eine scharfe Spitze am Ende, was daher rührt, dass er sich auf die elfenbeinernen Stoßzähne konzentriert. Wie dem auch sei, der einzige, der etwas über das Aussehen eines Elefanten machen kann, und zwar in seiner Gesamtheit, ist jener, der ihn mit tauglichen Augen als Ganzes sehen kann. Nun kann keiner von uns behaupten in eben jener Position zu sein und es wäre eine unverantwortliche Hybris etwas in einer Art „Hyper-„ oder „Weltreligion“  oder „-philosophie“ davon auszugehen, dass man eben dazu und er Lage sei, ganz im Sinne, dass alle irgendwo Recht hätten, dass man die verschiedenen Glaubenssätze eben nur zusammenführen müsse. Trotzdem dürfen wir uns nicht verschließen vor jenen Einsichten, die andere Kulturen seit vielen Jahrhunderten oder in manchen Fällen sogar Jahrtausenden gemacht haben. Soviel dazu.

 
Menschliche Bestrebungen
Auch wenn wir uns die menschlichen Bestrebungen ansehen, so entdecken wir im Grunde immer gesunde Bedürfnisse. Selbst der Verbrecher versucht ein vernünftiges und gutes Bedürfnis zu befriedigen, seine Art dies zu tun ist verbrecherisch, nicht sein eigentliches Bestreben. So gelangen wir sehr bald zu der Einsicht, dass dem Menschen an sich nichts Böses innewohnt. Wenn er jedoch entmutigt ist und seine Bedeutung nicht in der Welt spürt, dann ist die einfachste Art sich Signifikanz zu verschaffen eben jene, einem anderen Menschen durch Drohung oder tatsächliche Gewalt eine solche abzupressen.

 
Die Situation heute
            In den letzten zwei Jahrzehnten jedoch hat sich glücklicherweise auf dem Gebiet der Psychologie einiges getan, was Anlass zu großer Hoffnung gibt. Die positive Psychologie hat sich aus einem Nischendasein zu einer ernstzunehmenden Strömung entwickelt, die nicht einfach dem Zeitgeist entspringt, sondern etwas Substanzielles, etwas Verlässliches darstellt, auf dem zukünftige Forscher aufbauen können und das das Potenzial beinhaltet zu einer wahrhaften Verbesserung des Lebens aller Menschen auf dem Planten beizutragen. Denn das sollte das Ziel von uns allen sein: Spuren in der Welt zu hinterlassen und das Dasein unserer Mitmenschen verbessert zu haben; die Welt in einem besseren Zustand vorzufinden, wenn wir sie verlassen, als sie sich befand, als wir geboren wurden!

            Das ist eine ermunternde Entwicklung im Westen, dass gerade unsere Psychologie, die neueste Forschung betreffend, in eine ganz andere Richtung weist, als dies die althergebrachte Tradition getan haben. Wir befinden uns mitten in einer Revolution, was das Verständnis unser selbst betrifft. Ein relativ wenig bekannter Mann namens Ian Suttie („The origines of love and hate“) hat hier Pionierarbeit geleistet. Leider verstarb er allzu früh, doch sein Schüler, John Boldy (bekannt in der Kinderpsychologie) führte seine Arbeit fort und sorgte auch für die Veröffentlichung der Forschungsarbeit seines Lehrers. Suttie beschäftigte sich intensiv mit der Entwicklung von Kindern und seiner Überzeugung nach ist nicht das Streben nach Macht, Lust oder Aggression das wesentliche Bestreben des Menschen, sondern jenes nach Gemeinschaft mit anderen. Dies zeigt sich in der gesunden, intimen Beziehung zwischen einer liebevollen Mutter und ihrem Baby. Diese Beziehung ist als das Ideal und als Modell für alle intimen Beziehungen zwischen Menschen anzusehen. Es gilt deshalb:

Die Ansicht, dass der Mensch sündhaft sei, ist falsch und nicht mehr aufrecht zu erhalten!

Nicht zuletzt die Neurowissenschaften zeigen uns mit ihren Untersuchungen von kranken und gesunden Gehirnen (vor allem durch Messungen von Gehirnaktivitäten durch SPECT-Scans), dass der gesunde Mensch auch ein sozialer, liebevoller, netter Mensch ist, der fern des Bösen lebt. Es sind die kranken Gehirne, die am meisten Schaden anrichten, aber Kranksein ist nicht die Natur des Menschen, sondern die Gesundheit. Wenn man den Begriff Sünde doch noch verwenden möchte, dann darf dies nicht im moralischen Sinne geschehen, sondern hat sich daran zu orientieren, dass damit ein unnatürlicher Zustand gemeint ist, wie immer dieser auch entstanden sein mag.

            Der Glaube an den Menschen ist keineswegs gegen Gott gerichtet, wie manche religiösen Menschen uns glauben machen wollen. Humanismus und Theismus sind wunderbar miteinander vereinbar. Was den Christen betrifft, so sei hier an das wichtigste Gebot erinnert, dass Jesus seinen Jüngern gegeben hat: Gott und seinen Mitmenschen zu lieben – und beide Gebote sind einander gleich.  Nicht indem wir einen Gott außerhalb dieser Welt anbeten dienen wir ihm (oder ihr, es etc.), sondern indem wir ihn in unserem Nächsten ehren, erfüllen wir seinen Willen. Aber auch für Nichtchristen und Menschen, die jede Metaphysik, mitsamt ihren Begriffen und Vorstellungen, ablehnen, zeigt sich hier eine Grundlage, die nicht von der Hand gewiesen werden kann. Ja mehr noch, hier bietet sich die Möglichkeit, dass alle Menschen, auch die Atheisten und Agnostiker, eine gemeinsame Basis finden, eine Basis auf der Frieden, Harmonie, Gerechtigkeit gedeihen können, für eine Welt in der den alten Sicherheit und den jungen eine Zukunft geboten wird.

            Wir dürfen eines niemals vergessen: Den Menschen zu studieren mag auf einer oberflächlichen Stufe dazu führen seine Natur zu verachten, doch je tiefer man in die Materie eindringt, desto wunderbarer, desto erhabenerer wird die Anschauung, die wir von ihm gewinnen und desto umfassender wird die Liebe zu uns selbst und zu unseren Mitmenschen. Das Studium des Menschen dient in seinem höchsten und letzten Zweck dazu das Leben von uns allen zu bereichern und zu verbessern und damit dem Lebendigen im Allgemeinen, nicht nur im Menschen selbst, zu dienen.

           
* Dr. Mannheimer beschäftigt sich seit vielen Jahren mit Philosophie, Psychologie und der menschlichen Natur. Er ist Humanist, Philanthrop und bezeichnet sich selbst als „begeisterten Europäer“.

 

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