Dr. Mannheimer* Sehen wir uns die klassischen Vorstellungen davon an, was der Mensch über den Menschen gedacht hat, so ist das, was wir über uns selbst und unser angeblich „wahres Wesen“ auszusagen hatten alles andere als ein Ruhmesblatt. Hatten die alten Griechen noch ein nobleres Verständnis von sich selbst, sofern sie männlich und gebildet waren, ebenso wie die Römer, sofern sie der Aristokratie entsprangen, so wurde mit den Unterwerfungsreligionen, zu denen auch das Christentum gehört, ein ängstlicher orientalischer Sklavengeist über Europa gestülpt, der den Menschen als von Natur aus sündhaft und damit als schlecht ansah. Nicht nur Nietzsche verabscheute diese alte Sicht des Menschen; doch er selbst wollte nur einigen wenigen ein besseres Wesen zugestehen und schloss sich, trotz aller Kritik, den Pessimisten und Schuldpredigern an, die im gemeinen Menschen nicht mehr zu vernehmen vermochten, als dass er als Humus für einen höheren Menschen dienen sollte, der erst noch im Entstehen begriffen war und dessen Vorläufer einige wenige Lichtgestalten der menschlichen Geschichte bildeten.
Modernere
Interpreten, wie etwa Sigmund Freud, sahen als die wesentlichen Bestrebungen
des Menschen Aggression und Sex an: ebenso wenig etwas, das uns zum Ruhme
gereichen würde. Sein von ihm abgefallener Schüler Alfred Adler erblickte im
Minderwertigkeitsgefühl einen wesentlichen Teil der menschlichen Natur.
Wie immer
man auch an die Frage nach dem wahren Wesen des Menschen herangehen mag, es ist
diese eine außerordentlich schwierige Frage, nicht nur deshalb, weil der
Betrachter selbst ein Mensch ist und man ihm insofern ein gewisses Maß an
Befangenheit vorwerfen könnte. Wir alle sind Teil der Zeit in der wir leben und
so ist auch unser Menschenbild zeitgebunden. Was das Wesentliche des modernen
Menschen darstellt, ist paradoxerweise gerade vom modernen Menschen selbst
nicht erfassbar, egal wie klug er oder sie auch sein mag. Es wird der
Geschichte überlassen sein ein brauchbares Urteil über den Menschen von heute
zu fällen. Die Frage nach der Natur des Menschen an sich ist jedoch eine andere
und sofern es in diesem Wesen eine Entwicklung gibt, wovon ihm Rahmen der
Evolution in jedem Fall auszugehen ist, so scheint sie doch sehr langsam
voranzuschreiten, so dass wir davon ausgehen können, dass der historische
Menschen, also jener Mensch, wie wir ihn seit den frühesten Aufzeichnungen der
Geschichtsschreibung her kennen (seit etwa 5000 Jahren) sich im Wesentlichen
nicht verändert hat und deshalb auch mit Fug und Recht auf alles uns
vorliegende Material zurückgreifen können, das uns vorliegt, um diese
entscheidende Frage zu beantworten oder eine Antwort nahe zu kommen.
So sehen wir durch die Geschichte
hindurch das bereits oben geschilderte negative Menschenbild, das sich
traditionell, ebenso wie das Weltbild aus dem Metaphysischen ableitet. Unter
dieser Grundlegenden Voraussetzung spielt es keine Rolle, ob wir es mit einer
monotheistischen, einer polytheistischen oder eine Naturreligion zu tun haben.
Wenngleich nicht alle traditionellen Menschenbilder negativ waren, so beruhte
doch keines auf der Wissenschaft, wie wir sie im modernen Sinne verstehen. Die
Natur des Menschen war mehr den Vorstellungen, den Mythen und der Philosophie
vorbehalten und stütze sich, wenn überhaupt nur selektiv auf empirische
Studien. Auch die Wissenschaft blieb lange Zeit in dem Fahrwasser, dass ihr von
den geistigen Strömungen der Tradition vorgegeben war und wagte sich nur
allmählich ins Neuland der Erkenntnis vor. Es war einfacher und auch weniger
gefährlich im sozialen Sinne, sich mit der toten Materie zu beschäftigen,
allenfalls noch mit Tieren und Pflanzen, als sich dem Menschen in seiner ganzen
Fülle zu nähern. Gedanken und mehr noch Gefühle galten lange Zeit als
chaotisch, konfus und schwer zu erfassen. Exakte Wissenschaften scheuten davor
zurück und man überließ es vorerst weiter den Philosophen und Medizinern und
später auch den Psychologen sich damit zu befassen. Es ist erstaunlich wie
wenig sich der Mensch um den Menschen gekümmert hat, möchte man doch meinen,
dass er doch mit Montaigne längst erkennen hätte müssen, dass es kein
interessanteres, herausforderndes Studium geben könnte, als eben jenes von uns
Menschen! Dunkel war darum eben auch das Menschenbild, von Mythen und
Aberglauben durchsetzt. Doch mit dem Voranschreiten und dem schwindenden
Einfluss der Religionen, kam mehr Licht in die Natur des Menschen und
verbesserten sich auch sukzessive die Bedingungen des menschlichen Lebens.
Bereits in den 30er Jahren des
20. Jahrhunderts hat der große österreichische Mediziner und Psychoanalytiker
Wilhelm Reich eine Theorie über die Natur des Menschen auf gestellt und ihn als
ein Wesen aus drei Schichten beschreiben:
An der Oberfläche trägt er die künstliche Maske der Selbstbeherrschung,
der zwanghaft unechten Höflichkeit und der gemachten Sozialität. Damit verdeckt
er die zweite Schicht darunter, das Freudsche „Unbewusste“, in dem Sadismus,
Habgier, Lüsternheit, Neid, Perversion aller Art, etc. in Schach gehalten sind,
ohne jedoch das Geringste an Kraft einzubüßen. Diese zweite Schicht ist das
Kunstprodukt der sexualverneinenden Kultur und wird bewusst meist nur als
gähnende Leere und Öde empfunden. Hinter ihr, in der Tiefe, leben und wirken
die natürliche Sozialität und Sexualität, die spontane Arbeitsfreude, die
Liebesfähigkeit. Diese letzte und dritte Schicht, die den biologischen Kern der
menschlichen Struktur darstellt, ist unbewusst und gefürchtet. Sie widerspricht
jedem Zug autoritärer Erziehung und Herrschaft. Sie ist gleichzeitig die
einzige reale Hoffnung, die der Mensch hat, das gesellschaftliche Elend einmal
zu bewältigen. (Wilhelm Reich, „Die Entdeckung des Orgon – Die Funktion des
Orgasmus, Kiepenheuer & Witsch, 9. Auflage 2009, S. 175f).
Reich geht also von einer
Dreiteilung aus. Die oberflächliche Schicht, die der Mensch seinen Mitmenschen
zeigt, ist wohlbekannt und seit jeher als „Maske“ oder „Schauspiel“ durchschaut
worden (Goethe und Shakespeare sahen gleichermaßen im Menschen einen Schauspieler,
der auf der Bühne des Lebens viele Rollen spielt). Mit Freud kam die Aufdeckung
der darunter liegenden Schicht, die Übel und allerlei Ekelhaftes ans Tageslicht
brachte, all jene Dinge, die die Menschen nicht sehen wollten. Im
traditionellen Sinne hätte man diesen Bereich als „Sünde“ bezeichnet. Was
jedoch das besondere Verdienst Reichs war, war, dass er tiefer grub als Freud,
dass er nicht beim „Unbewussten“ haltmachte, sondern darunter eine
Natürlichkeit und Bescheidenheit entdeckte, die unerschütterlich ist und die
alles vergessen macht, was der Mensch darüber gelegt haben mag.
Die
Humanistische Psychologie hatte einige bemerkenswerte Erfolge, gerade ab den
späten 50er Jahren vorzuweisen. Doch nicht allzu selten sah sie sich polemischen
Vorwürfen ausgesetzt, sie sei oberflächlich und würde im Grunde nur ein Art
Psychomarketing darstellen, ein geschickter oder in manchen Fällen ein nicht
ganz so geschickter Versuch, im psychischen Bereich den Menschen das gute Leben
zu verkaufen, wie es die Wirtschaft auf der materiellen Ebene täte.
Nichtsdestotrotz haben sich einige herausragende Forscher wie etwas Eric Berne
und Abraham Maslow damit beschäftigt, was der Mensch sein könnte. Sie
entwickelten Konzepte, die fern der traditionellen Lehre, die sich vor allem
mit der dunklen Seite des Menschen, mit dem Guten, mit dem Potenzial von uns
allen beschäftigte und uns eine Vorstellung davon gegeben was ein freier,
selbstbewusster glücklicher Mensch sein könnte. Abraham Maslow etwa beschreibt
in seinem einzigartigen Werk „Motivation und Persönlichkeit“ Menschen, die es
tatsächlich zu einem Maß an Erfüllung gebracht hatten, das weit jenseits dessen
lag, was dem Normalbürger auch nur im Geringsten im Bereich des Möglichen
erscheinen musste.
Einflüsse von außen
Auch im Buddhismus gibt es die
Ansicht, dass das Böse keine eigentliche Entität sei, kein Gegenpol zum Gutem,
sondern das verkrüppelte Gute. Wenn das Gute sich nicht entfalten kann, weil
ihm sein freies Aufblühen verwehr wird, dann degeneriert es und tritt uns als
das entgegen, was wir als Böse bezeichnen. Es deutet immer mehr darauf hin,
gerade aus der modernen Wissenschaft, und hier sei besonders die Quantenphysik
genannt, dass die fundamentale Wahrheit aller Dinge eine Einheit und kein
Dualismus ist. Dem Guten steht kein Böses entgegen, dieses ist nämlich nicht
aus sich selbst heraus existent, sondern lediglich eine fehlgeleitete gute
Absicht (übrigens ist auch das Christentum keine dualistische Religion. Gott
herrscht alleine, es gibt keinen Gegenspieler, wie etwa den Teufel. Solches zu
behaupten wäre manichäisch, nicht christlich). Man erkennt hier gerade auch den
positiven Einfluss, den nichtwestliche Kulturen auf unseren Geist haben können,
wie sie dazu beitragen können ein umfassenderes Verständnis der menschlichen
Natur zu entwickeln.
Es gibt ja bekanntlich die
Metapher vom Elefanten, der von einer Gruppe von Blinden befühlt wird und über
den jeder eine andere Aussage macht. Der eine konzentriert sich auf die dicken
Beine und meint ein Elefant bestünde aus dicken Beinen. Ein andere befühlt die
riesigen Ohren und ist demzufolge davon überzeugt Elefanten hätten im
Wesentlichen große Hörorgane. Wieder ein anderer meint Elefanten seien vor
allem fest und glatt und hätten eine scharfe Spitze am Ende, was daher rührt,
dass er sich auf die elfenbeinernen Stoßzähne konzentriert. Wie dem auch sei,
der einzige, der etwas über das Aussehen eines Elefanten machen kann, und zwar
in seiner Gesamtheit, ist jener, der ihn mit tauglichen Augen als Ganzes sehen
kann. Nun kann keiner von uns behaupten in eben jener Position zu sein und es
wäre eine unverantwortliche Hybris etwas in einer Art „Hyper-„ oder
„Weltreligion“ oder „-philosophie“ davon
auszugehen, dass man eben dazu und er Lage sei, ganz im Sinne, dass alle
irgendwo Recht hätten, dass man die verschiedenen Glaubenssätze eben nur
zusammenführen müsse. Trotzdem dürfen wir uns nicht verschließen vor jenen
Einsichten, die andere Kulturen seit vielen Jahrhunderten oder in manchen
Fällen sogar Jahrtausenden gemacht haben. Soviel dazu.
Menschliche Bestrebungen
Auch wenn wir uns die
menschlichen Bestrebungen ansehen, so entdecken wir im Grunde immer gesunde
Bedürfnisse. Selbst der Verbrecher versucht ein vernünftiges und gutes
Bedürfnis zu befriedigen, seine Art dies zu tun ist verbrecherisch, nicht sein
eigentliches Bestreben. So gelangen wir sehr bald zu der Einsicht, dass dem
Menschen an sich nichts Böses innewohnt. Wenn er jedoch entmutigt ist und seine
Bedeutung nicht in der Welt spürt, dann ist die einfachste Art sich Signifikanz
zu verschaffen eben jene, einem anderen Menschen durch Drohung oder tatsächliche
Gewalt eine solche abzupressen.
Die Situation heute
In den
letzten zwei Jahrzehnten jedoch hat sich glücklicherweise auf dem Gebiet der
Psychologie einiges getan, was Anlass zu großer Hoffnung gibt. Die positive
Psychologie hat sich aus einem Nischendasein zu einer ernstzunehmenden Strömung
entwickelt, die nicht einfach dem Zeitgeist entspringt, sondern etwas
Substanzielles, etwas Verlässliches darstellt, auf dem zukünftige Forscher
aufbauen können und das das Potenzial beinhaltet zu einer wahrhaften
Verbesserung des Lebens aller Menschen auf dem Planten beizutragen. Denn das
sollte das Ziel von uns allen sein: Spuren in der Welt zu hinterlassen und das
Dasein unserer Mitmenschen verbessert zu haben; die Welt in einem besseren
Zustand vorzufinden, wenn wir sie verlassen, als sie sich befand, als wir
geboren wurden!
Das ist
eine ermunternde Entwicklung im Westen, dass gerade unsere Psychologie, die
neueste Forschung betreffend, in eine ganz andere Richtung weist, als dies die
althergebrachte Tradition getan haben. Wir befinden uns mitten in einer
Revolution, was das Verständnis unser selbst betrifft. Ein relativ wenig
bekannter Mann namens Ian Suttie („The origines of love and hate“) hat hier
Pionierarbeit geleistet. Leider verstarb er allzu früh, doch sein Schüler, John
Boldy (bekannt in der Kinderpsychologie) führte seine Arbeit fort und sorgte
auch für die Veröffentlichung der Forschungsarbeit seines Lehrers. Suttie
beschäftigte sich intensiv mit der Entwicklung von Kindern und seiner
Überzeugung nach ist nicht das Streben nach Macht, Lust oder Aggression das
wesentliche Bestreben des Menschen, sondern jenes nach Gemeinschaft mit
anderen. Dies zeigt sich in der gesunden, intimen Beziehung zwischen einer
liebevollen Mutter und ihrem Baby. Diese Beziehung ist als das Ideal und als
Modell für alle intimen Beziehungen zwischen Menschen anzusehen. Es gilt
deshalb:
Die Ansicht, dass der Mensch sündhaft sei, ist falsch und nicht mehr
aufrecht zu erhalten!
Nicht zuletzt die
Neurowissenschaften zeigen uns mit ihren Untersuchungen von kranken und
gesunden Gehirnen (vor allem durch Messungen von Gehirnaktivitäten durch
SPECT-Scans), dass der gesunde Mensch auch ein sozialer, liebevoller, netter
Mensch ist, der fern des Bösen lebt. Es sind die kranken Gehirne, die am
meisten Schaden anrichten, aber Kranksein ist nicht die Natur des Menschen,
sondern die Gesundheit. Wenn man den Begriff Sünde doch noch verwenden möchte,
dann darf dies nicht im moralischen Sinne geschehen, sondern hat sich daran zu
orientieren, dass damit ein unnatürlicher Zustand gemeint ist, wie immer dieser
auch entstanden sein mag.
Der Glaube
an den Menschen ist keineswegs gegen Gott gerichtet, wie manche religiösen
Menschen uns glauben machen wollen. Humanismus und Theismus sind wunderbar
miteinander vereinbar. Was den Christen betrifft, so sei hier an das wichtigste
Gebot erinnert, dass Jesus seinen Jüngern gegeben hat: Gott und seinen
Mitmenschen zu lieben – und beide Gebote sind einander gleich. Nicht indem wir einen Gott außerhalb dieser
Welt anbeten dienen wir ihm (oder ihr, es etc.), sondern indem wir ihn in
unserem Nächsten ehren, erfüllen wir seinen Willen. Aber auch für Nichtchristen
und Menschen, die jede Metaphysik, mitsamt ihren Begriffen und Vorstellungen,
ablehnen, zeigt sich hier eine Grundlage, die nicht von der Hand gewiesen
werden kann. Ja mehr noch, hier bietet sich die Möglichkeit, dass alle
Menschen, auch die Atheisten und Agnostiker, eine gemeinsame Basis finden, eine
Basis auf der Frieden, Harmonie, Gerechtigkeit gedeihen können, für eine Welt
in der den alten Sicherheit und den jungen eine Zukunft geboten wird.
Wir dürfen
eines niemals vergessen: Den Menschen zu studieren mag auf einer
oberflächlichen Stufe dazu führen seine Natur zu verachten, doch je tiefer man
in die Materie eindringt, desto wunderbarer, desto erhabenerer wird die
Anschauung, die wir von ihm gewinnen und desto umfassender wird die Liebe zu
uns selbst und zu unseren Mitmenschen. Das Studium des Menschen dient in seinem
höchsten und letzten Zweck dazu das Leben von uns allen zu bereichern und zu
verbessern und damit dem Lebendigen im Allgemeinen, nicht nur im Menschen
selbst, zu dienen.
* Dr. Mannheimer
beschäftigt sich seit vielen Jahren mit Philosophie, Psychologie und der
menschlichen Natur. Er ist Humanist, Philanthrop und bezeichnet sich selbst als
„begeisterten Europäer“.
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