Freitag, 29. November 2013

Das Ringen um die Ukraine

I. DIE ÜBERRASCHUNG
 
Es war für die Europäische Union eine Überraschung, so wurde zumindest verkündet, als am 22. November der ukrainische Präsident Viktor Janukowitsch bekanntgab, dass er das seit langem geplante Assoziierungsabkommen seines Landes mit der EU nicht unterzeichnen werde. Die Unterzeichnung war für den kommenden Freitag auf der Ostkonferenz der EU in der litauischen Hauptstadt Vilnius vorgesehen. Gleich nach der Bekanntgabe der Nichtunterzeichnung, verkündete die Regierung, sie werde sich nun aktiver Russland und der von ihm geführten Zollunion zuwenden.

Das abgelehnte Abkommen, dass eine weiter Annäherung der Ukraine an die EU bringen sollte, war bereits seit Jahren vorbereitet worden und stand schon mehrmals kurz vor der  Unterzeichnung. Ein Hin- und Her zwischen Kiew und Brüssel, das sich vor allem über das ganze Jahre 2013 hinzog, war dem vorausgegangen, bis nun Ende November die Sache vorerst auf Eis gelegt wurde. Die ukrainischen Polit-Spitzen beteuerten allesamt, sie wollten weiterhin an einer Zusammenarbeit mit der EU festhalten und wünschten sich für die Zukunft immer noch die Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens. Man ließ verlautbaren, dass wirtschaftliche Interessen den Ausschlag gegeben hätten (Russland hatte für den Fall der Unterzeichnung des Abkommens mit Handelssanktionen gedroht - 160 Mrd. Doller Verlust, für den die EU keine Kompensation anbieten konnte), sowie der darüber hinausgehende außenpolitische Druck, der von Moskau ausgeübt worden wäre. Die ukrainische Opposition schäumte vor Empörung und buhte die Regierung im Parlament mit "Schande-Rufen" aus; auf der Straße schürte sie zudem den Protest der Menschen. Auch die EU-Spitzen, allen voran Manuel Barroso und Herman van Rompuy, richteten ungewohnt scharfe Worte an Moskau für dessen Einflussnahme auf die Ukraine, was freilich zu keiner Änderung der dortigen Haltung führte.

Julia Timoschenko, die 2011 wegen Amtsmissbrauchs zu sieben Jahren Gefängnis verurteilte Ex-Regierungschefin der Ukraine, die sich besonders im Westen großer Popularität erfreut, reagierte mit einem Schreiben, das ihr Anwalt veröffentlichte, auf die Absage der Regierung und trat in einen unbefristeten Hungerstreik. Sie rief die Ukrainer auf, auf die Straße zu gehen und für die Unterzeichnung des Abkommens zu demonstrieren. Bereits am Sonntag, den 24. November versammelten sich tausende Menschen vor dem Regierungssitz in Kiew. Die Proteste setzten sich in den kommenden Tagen weiter fort; doch es blieb dabei,  dass das Assoziierungs- und Freihandelsabkommen nicht unterzeichnet wurde.


II. INTERPRETATION


Am Beispiel der Ukraine zeigt sich die Bruchlinie zwischen zwei globalen Machtblöcken, der Europäischen Union einerseits und der Russischen Föderation andererseits. Diese Linie geht direkt durch den Staat, der gegen Westen hin hauptsächlich von Ukrainern, gegen Osten hin mehrheitlich jedoch von Russen bewohnt wird. Keine Frage, Russland ist auf dem Weg wieder zu einem "Reich" zu werden und in Anbetracht der globalen Entwicklung ist dieses Bestreben alles andere als verwunderlich. Es zeigt sich in den letzten beiden Jahrzehnten deutlich eine große Verschiebung von Machtblöcken weltweit. Nach dem Zerfall der Sowjetunion entstand ein Machtvakuum, das, wie meist, zu Chaos führte und eine Menge neuer Staaten auf der internationalen Bühne erscheinen ließ, die vormals Teilrepubliken der UdSSR gewesen waren. Ebenso lösten sich die  Staaten Osteuropas größtenteils aus dem russischen Einflussbereich und beeilten sich, sich der EU anzuschließen bzw. Partnerabkommen mit ihr zu vereinbaren, da ihnen langfristig klar sein musste, dass Russland wieder erstarken würde. Bis dahin wollte man vollendete Tatsachen schaffen, um nicht wieder in den Bereich russischer Machtinteressen zu gelangen. Was die Ukraine betrifft, so war diese jahrhundertelang russisch und ihre Unabhängigkeit ein historisch recht junges Faktum.  Präsident Putin hat nie einen Zweifel daran gelassen, dass der Zerfall der Sowjetunion von ihm als eine große Tragödie betrachtet wurde. Bestrebungen die nationale Größe und die Selbstachtung Russlands wieder herzustellen sind deshalb als eine Selbstverständlichkeit zu betrachten.  Die Ukraine ist flächenmäßig ein europäischer Riese, verfügt über große Rohstoffvorkommen (vor allem Eisenerz) und stellt strategisch eine Schlüsselposition in Osteuropa dar. Es ist bei weitem das wichtigste Transitland für Öl und Gas aus Russland und Zentralsien in Richtung Westen. Ein Land von derartiger Bedeutung kann den beiden großen  Machtblöcken, die jeweils im Westen (EU) und im Osten (Russische Föderation) liegen, nicht gleichgültig sein.

Die Bevölkerung in der Ukraine selbst ist geteilt. Die Menschen im Westen des Landes, der größtenteils landwirtschaftlich geprägt ist, und historische Beziehungen zum Westen (Österreich-Ungarn, Polen) hatte, strebt eine starke Annäherung an die EU an (Dreiviertel der Bevölkerung), während die Mehrheit der Menschen im von Bergbau und Schwerindustrie geprägten Osten, ethnische Russen sind und sich an den großen Bruder anlehnen wollen (etwa 60 Prozent der dortigen Bevölkerung). Umfragen deuten jedoch darauf hin, dass die Ablehnung des Abkommens mit der EU durch Präsident Janukowitsch ihm bei den Ukrainern eher  geschadet als genützt hat; die Opposition verfügt im Augenblick über eine deutliche Mehrheit. Die nächsten Präsidentschaftswahlen finden im Jahr 2015 statt.
 
Das zur Unterzeichnung bereit stehende Assoziierungs- und Freihandelsabkommen hätte neben vielen wirtschaftlichen und  politischen Bestimmungen auch eine enge militärische Zusammenarbeit mit der Europäischen Union beinhaltet. Dass Russland einer solchen Regelung nicht nur nicht zustimmen, sondern nicht einmal dulden kann, versteht sich von selbst. Denn gerade die militärische
Zusammenarbeit der Ukraine mit Russland wurde in jüngerer Vergangenheit intensiviert. So verfügt Russland mit seiner Marine über die Kriegshäfen auf der Krim, die geographisch zur Ukraine gehört (aber wie lange noch?)..
Keine Frage, dass die Ukraine sich entscheiden muss; es wäre naiv zu glauben man könne beides haben: eine enge Allianz mit Russland und der Europäischen Union. Es ist das alte "man kann nicht zwei Herren dienen".  Es ist verständlich, dass das Land versuchte seinen politischen Preis in die Höhe zu treiben, doch ebenso wäre es naiv gewesen ernsthaft zu erwarten, dass die Ukraine aus dem russischen Einflussbereich herausgelöst und an die EU herangeführt werden könnte.  Russland hatte in der Vergangenheit bereits öfters seine Muskeln gezeigt und mitten im Winter (Anfang Jänner) für  mehr als eine Woche die Gaslieferungen durch die Ukraine eingestellt. Im Westen brach damals bereits eine kleine Panik aus - zum Glück waren noch genügend Reserven vorhanden. Doch die Botschaft aus Moskau war eindeutig: wenn der Streit auch in erster Linie wie eine Angelegenheit zwischen der Urkaine und Russsland aussah (die Ukraine konnte sich mit Russland auf den Gaspreis nicht einigen), war die Demonstration doch auch unmissverständlich an den Westen gerichtet. Europa wurde deutlich vor Augen geführt wozu Russland in der Lage ist und auch dass es auch den Willen hat buchstäblich den "Hahn" zuzudrehen,  sollte dies aus russischer Sicht erforderlich sein. Je näher ein Staat Russland politisch steht, desto geringer ist der Preis, den das Land für russische Rohstoffe zu bezahlen hat. Weißrussland, das sehr eng an Russland angebunden ist, bezahlt  etwa weit weniger als die Hälfte für dieselbe Menge Erdgas, als die dem Westen näher stehende Ukraine. Solche Preisunterschiede sind freilich nicht alleine auf geographische oder wirtschaftliche Unterschiede zurückzuführen.

Ein weiteres Beispiel dafür, dass Russland seinen Nachbarn zeigt wohin sie gehören, zeigte sich im kurzen Georgienkrieg von 2008. Die Botschaft wurde offenbar verstanden und die meisten ehemaligen Sowjetrepubliken haben nun kein Interesse mehr an einer größeren Annäherung an die EU, unter anderem auch aufgrund der jüngsten wirtschaftlichen Probleme der Union, die diese weitaus unattraktiver gemacht haben, als noch vor ein paar Jahren. Zudem darf nicht vergessen werden, dass es für die meisten Regierungen in dieser Region weitaus angenehmer ist mit Moskau, als mit Brüssel ins Gespräch zu kommen: Penetrantes Moralisieren und lästige Fragen in Bezug auf Demokratieentwicklung und dergleichen, sind vom Kreml weniger zu erwarten. So gibt es am Rande Russland heute eine ganze Reihe von Staaten, die relativ instabil sind und deren Konflkite auf Eis gelegt sind aber weit davon entfernt sich gelöst zu sein oder sich im Lösungsprozess zu befinden.
 
In Präsident Putin erkennt man einen Staatsmann, der sich seiner Macht bewusst ist, ein Merkmal von wahren Führungspersönlichkeiten, das den europäischen Politikern heutzutage größtenteils abhanden gekommen zu sein scheint. Ja, man hat geradezu den Eindruck, dass Machtbewusstsein als etwas Unmoralisches oder gar Böses angesehen wird. Das Gegenteil ist der Fall; wer Macht hat und sie versucht vor der Öffentlichkeit herunterzuspielen ist nichts als ein Schmierenkömodiant und verdient keinen Respekt. Darüberhinaus ist die menschliche Natur so eingerichtet, dass es uns nicht möglich ist einen Menschen der schwach ist oder sich schwach stellt zu respektieren - allenfalls gibt es dafür Mitleid. Hier liegt einer der Gründe für das miserable Ansehen der Politiker in Europa. Wer an die Macht gekommen ist, versteht die  Mechanismen, die dazu führten sehr gut und dies zu verbergen zu versuchen, ist etwas, das einem die Menschen nicht "abkaufen". Ein Teil des lähmenden Zynismus, der unserer Zeit kennzeichnet, kommt eben daher, dass Mächtige ein Bild von sich präsentieren, das sie als an der  Macht nicht interessiert zeigt und den Anschein erwecken will mehr durch Zufall auf einen Posten gelangt zu sein und mehr noch, dass im Grunde jeder dasselbe tun könnte. Nichts könnte der  Wahrheit ferner sein: Macht zu verbergen ist ein Schauspiel, genauso, wie es großer Geschicklichkeit bedarf, um wahre Geschicklichkeit zu verbergen. Bei den Menschen aber führt dies zu Unsicherheit und teilweise zu Angst, die sich eben in Zynismus äußert.  Was folgt nun aus all dem für unseren Fal?. Die Ukraine gilt als Herzstück des 2009 auf Initiative von Schweden und Polen begonnenen Ostpartnerschaften-Projekts. Dass das Land nun die Verhandlungen auf Eis gelegt hat, muss als große Schlappe der EU gewertet werden. Diese Runde geht eindeutig an Russland. Die Ukraine hat sich für die wirtschaftlichen Vorteile entschieden - alle nun abgegebenen politischen Erklärungen dienen lediglich dazu diese, für viele Menschen unangenehme, Tatsache zu verkaufen und die Verantwortung von sich zu weisen.


III. ÜBERLEGUNGEN FÜR DIE EUROPÄISCHE UNION

Die EU muss sich ihrer Interessen stärker bewusst werden und diese auch der eigenen Bevölkerung vermitteln. Die europäischen Politiker sprechen zu wenig über Macht  und Interessen der eigenen Gemeinschaft und zuviel über moralische Aspekte, wobei die Bedürfnisse der Menschen viel handfesterer Natur sind, als irgendwelche hochtrabenden Ideale snobistischer, weltfremder Intellektueller. Letzendlich will der einzelne wissen, was er von einer bestimmten Entscheidung hat und das soll sich in konkreten Zahlen, in Euros in der Geldbörse ausdrücken. Russland seinerseits und sein sehr starker Präsident Putin (das amerikanische Magazin "Forbes" sieht ihn 2013 als den mächtigsten Mann der Welt), ist seinem Volk viel näher verbunden und befriedigt die nationalen Interesse und jene der Bürger seines Landes weitaus besser als dies in Europa durch dessen Politiker der Fall ist. So vermeinen viele Europäer, vor allem die Politiker, Ideologen und Journalisten, Russland solle vor allem an seiner  Demokratie und Rechtstaatlichkeit arbeiten ("Fortschritte machen"). Man sieht daran wie wenig diese Leute vom russischen Volk verstehen und wie sehr sie Russland nach ihrem eigenen geistigen Abbild gestalten wollen. Putin hat seit seinem ersten Amtsantritt im Jahr 2000 dem russischen Volk gegeben, was es mehrheitlich wollte: Stabilität, Wachstum, internationaler Respekt;  auf den Punkt gebracht ausgedrückt als "die Regierung liefert uns Gewehre, Butter und Selbstrespekt". Das waren und sind noch immer die wichtigsten Werte der russischen Bevölkerung.  Nur 14 Prozent der Russen würden nicht auf die Demokratie verzichten, wenn wichtigere Werte nicht erfüllt werden könnten.

Das erste was geschen muss ist die Faktenlage völlig nüchtern festzustellen, dann sind die eigenen Interessen zu definieren und in der Folge hat die Festlegung der Prioritäten innerhalb dieser Interessen zu erfolgen. Alles weitere ist dann ein Umsetzen diesen Prioritäten.  Die EU muss den langfristigen Plan aufgeben all jene Gebiete, die geographisch Europa bilden auch in die Union aufzunehmen. Dies wir in jedem Fall an Russland scheitern, aber auch die anderen noch "weißen Flecken" auf der EU-Landkarte (Schweiz, Norwegen, Serbien, Weißrussland etc.) werden aller Wahrscheinlichkeit nicht allesamt einmal zur EU gehören. Und eine ganz wichtige Sache darf keinesfalls vergessen werden: Die außenpolitischen Erfolge der Europäischen Union lagen bisher hauptsächlich dort, wo sie sich als Vermittlerin zwischen Konfliktparteien (vor allem außerhalb Europas) gezeigt hat. Bei der  Vertretung ihrer eigenen Interessen auf der globalen Bühne hingegen, sieht die Bilanz weitaus schlechter aus.
 
Gegenüber Russland muss eine Verhandlungsposition auf "Augenhöhe" eingenommen werden. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist dies meist nicht der Fall, denn gerade vom moralischen Standpunkt aus weist die EU immer wieder auf Demokratiedefizite und rechtstaatliche Mängel hin, die ihrer Meinung nach in Russland bestehen. Solches Verhalten wirkt arrogant und wird zudem nicht allzu ernst genommen. Moralische Appelle werden meist als Waffen im Kampf um Einfluss interpretiert und in aller Regel sind sie das auch. Europa muss sich dies eingestehen und den Gebrauch dieser Waffe einstellen, vor allem weil sie auf höchster politischer Ebene beinahe immer unwirksam ist und im Gegenzug einen Respekt kostet, anstatt dass er einem solchen einbringt.  Der Schaden, den die EU sich dadurch an ihren vitalen Interessen (vor allem wirtschaftlich und den politischen Einfluss auf die Welt betreffend) zufügt, darf nicht unterschätzt werden. Europa läuft ständig Gefahr sich und seiner Bevölkerung Schaden zuzufügen. Vollständig rationales Handeln beinhaltet immer, dass sowohl die Mittel, als auch der Zweck  rational sind, eine wertrationales Handlung (nach Max Weber) ist nicht im vollsten Sinne als rational zu bezeichnen. Deshalb: Die Propaganda gegen Russland sollte zumindest von offizieller Seite eingestellt werden. Auf der anderen Seite muss die EU beginnen berechtigte Kritik von Russland anzunehmen (siehe Anhang unten).
 
Die Welt wird heute im wesentlichen von vier großen Machtblöcken kontrolliert: USA, EU, Russland und China. Diese Tetrachie könnte durch weitere Blöcke ergänzt werden, sofern sich mehrere Staaten zu solchen zusammenschlössen. So wäre es denkbar, dass die arabischen Staaten zusammen einen (vor allem durch Erdöl geprägten) gemeinsamen Machtblock bilden könnten und dann mit den anderen vier Blöcken eine "Pentrachie" bildeten. Mitunter könnte man bereits jetzt die OPEC, das weltweite Ölkartell, als solchen Block bezeichnen.  Was immer Verschwörungstheoretiker meinen mögen, die Welt wird nicht von einer einheitlichen Macht regiert (geheime Weltregierung im Verborgenen), sondern von einer Handvoll gebündelter Machtinteressen bestimmt, die allerdings selbst in scharfer Konkurrenz zueinander stehen. In gewisser Weise erinnert diese Situation an das Europa nach den Napoleonischen Kriegen. Auch damals gab es nach dem Wiener Kongress (1814/15) eine "Pentarchie" zwischen den fünf Großmächten Großbritannien, Frankreich, Russland, Preußen und Österreich (z.B. auf den Kongress von Aachen 1818).
 
Europa muss seine globale Position in voller Klarheit ausrichten. Unter der Bedachtnahme, dass es zu den vier oder fünf großen Machtblöcken der Welt zählt, hat es seine Stellung und seine Interessen in Bezug auf alle anderen drei bzw. vier zu klären und mögliche Allianzen zu überdenken. Im besten Fall könnte Europa eine Stellung einnehmen, wie es Österreich und vor allem der damalige Kanzler Fürst Metternich als "Kutscher Europas" nach dem Wiener Kongress innehatte. Es wäre nicht unmöglich und wenn richtig gehandhabt auch nicht als "arrogant" zu verstehen, wenn Europa zum "Kutscher der Welt" werden würde. Seine Erfahrung, gerade auch aus der Kolonialzeit und den wechselseitigen Beziehungen der Fürstenhöfe und Regierungen über die Jahrhunderte hinweg, sein diplomatisches Geschick, könnten zum Wohle der Welt, zum Gleichgewicht der globalen Kräfte und zum Frieden Entscheidendes beitragen.


IV. BESONDERE ÜBERLEGUNGEN FÜR DEUTSCHLAND

Russland ist für Deutschland der drittwichtigste Außenhandelspartner nach der EU und den USA, wobei der Unterschied zwischen den USA (ca. 600 Mrd. Euro) und der Russischen Föderation (ca. 450 Mrd. Euro) nicht besonders groß ist. Deutschland ist nach beinahe allen Kriterien (nicht nur wirtschaftlich) die mächtigste Nation der EU (die derzeitige Kritik an Deutschlands Erfolg bestätigt nur seine Stärke). Das Land hat deshalb das Recht diese Macht auch für seine nationalen Interessen einzusetzen und eine Vorreiterrolle in Europa einzunehmen. Die Zeiten, als Deutschland seinen Nachbarn schaden wollte, sind lange vorbei und wer solches im 21. Jahrhundert immer noch glaubt, ist entweder nicht auf der Höhe der Zeit oder verfolgt niedere oder unredliche Motive damit.
 
Langfristig muss Deutschland sich um stärkere Verbindungen zu Staaten und Staatengruppen außerhalb der EU bemühen, insbesondere dann, wenn die EU einen "Renationalisierungsschub" erlebt, wie im Augenblick gerade. Das traditionelle Projekt Europa, so wie es seit seiner Gründung (1950er Jahre) bestanden hat, ist zu einem Ende gekommen; wir befinden uns in einer neuen Phase, deren Entwicklung noch größtenteils ungewiss ist. Es bestehen viele Entwicklungsmöglichkeiten, bis hin zur Option von Austritten oder Ausschlüssen von Staaten aus der EU. In solchen Zeiten müsste ein nationales "Notfallprogramm" so aussehen, dass Deutschland im schlimmsten Fall überlebensfähig wäre, wenn es sämtliche Kontakte zu allen anderen Staaten der EU abbrechen müsste. Das wäre freilich ein "Horrorszenario" aber auch ein solches muss als Ultima Ratio überdacht werden. In Anbetracht der enormen Schulden der meisten  europäischen Staaten (die nie zurückbezahlt werden werden!), einer alternden Bevölkerung, mit all den damit verbundenen Belastungen und der wirtschaftlichen Dauerschwäche einiger EU-Staaten, muss der deutsche Maximalbetrag, der für die Bundesrepublik zumutbar ist, festgelegt und strikt eingehalten werden. Zudem sollte die Bevölkerung bei Entscheidungen über finanzielle Unterstützungen anderer Staaten miteinbezogen werden (durch Abstimmungen).
 
Was das Verhältnis zu Russland betrifft, steht Deutschland in großer Abhängigkeit vom russischem Erdgas und Erdöl. Deutschland seinerseits liefert nach Russland vor allem technisches Gerät, allem voran Maschinen und Autos. Durch die Schaffung der Ostsee-Pipeline von Russland nach Deutschland, hat Deutschland sich einen strategischen Vorteil verschafft. Die negative Seite dieser Maßnahme besteht etwa in einem getrübteren Verhältnis zu Polen, das aus historischen Gründen heraus immer sehr misstrauisch ist, wenn zwischen Deutschland und Russland zu große Einhelligkeit besteht. Außerdem muss Deutschland bedenken, was das Verhältnis zu Russland betrifft, die Interessen vor allem der west- und südeuropäischen Staaten nur wenig den deutschen entsprechen (schon alleine aufgrund der geographischen Entferung) und diese Staaten deshalb Deutschland kaum mit "voller Kraft" unterstützen werden.
 
In den deutschen Köpfen muss ein endgültiges Umdenken in Bezug auf den Osten geschehen, denn die simple Vorstellung "Westen=gut, Osten=schlecht" ist bei erstaunlich vielen noch vorhanden und geht auf die jahrzehntelange Zweiteilung der Welt, vor allem auch Deutschlands selbst, zurück. Damit geht keinesfalls eine Abkehr von den guten Beziehungen zu den USA einher, die USA sind und sollen auch in Zukunft ein guter und wichtiger Partner sein, mit dem man in freundschaftlicher Beziehung verbunden ist, doch Russland, das geographisch viel näher liegt, sollte ebenfalls deutlich  amikaler behandelt werden. In diesem Bereich gab es in den letzten zwei Jahrzehnten große Fortschritte und die beiden Staaten standen mehr als ein Jahrhundert lang nicht mehr so gut zueinander, doch eine weitere Verbesserung der Beziehungen ist auf jedenfall anzustreben. Auch wenn es in unserer Zeit überholt scheint, so zeigt doch der einfache Blick auf die  Landkarte, dass Deutschland in der Mitte des Kontinents liegt und dadurch im Osten und im Westen jeweils einige Staaten hat, die ebenfalls ihre Interessen zu verfolen und zu wahren haben. Der alte Nachteil dieser geographischen Zentralposition lag schon immer darin von zwei Seiten bedrängt werden zu können. Dies war der wesentliche Grund warum Kanzler Bismarck im 19. Jahrhundert mit dem Zarenreich einen "Rückversicherungsvertrag" geschlossen hatte (der von Kaiser Wilhelm II. leichtfertigerweise später aufgekündigt wurde), der ein "In-die-Zange-Nehmen" Deutschlands verhindern sollte. Eine solche Gefahr ist heute in weite Ferne gerückt und selbst misstrauische Militärs werden kaum Szenarien in diese Richtung zeichnen; doch wenn auch nicht militärisch, so können diese Überlegungen doch auch vom wirtschaftlichen Standpunkt her sehr nützlich sein.


V. LEKTIONEN


* Die Staatsräson und die harten Fakten entscheiden letztlich über das Schicksal von Staaten. Was auch immer man für Vorstellungen, Pläne und Wünsche haben mag, die Realität ist die letztgültige dominierende Kraft. Oder wie eine chinesisches Sprichwort sagt: "Vor der Notwendigkeit weicht jedes Recht". Nichts ist härter und bestimmender als die Realität. Und machen wir uns keine Illusionen, die Realität ist immer die sinnlich wahrnehmbare Welt, nicht die geistigen Vorstellungen, nicht die Gedanken des Menschen.
* Die vernünftigste Art, die beste Kunst der Staatsführung, besteht und bestand zu allen Zeiten in der Realpolitik. Schöne Vorstellungen mögen angenehm und verlockend erscheinen, doch können sie oft nicht durchgesetzt werden; und das ist auch gut so. Übrigens sind alle Menschen Idealisten. Die Frage ist nur welche Ideale man verfolgt. Auch sich an der reinen Realität zu orientieren ist ein Ideal!
* Um Macht zu erlangen, muss man die Mechanismen der Macht nicht nur gut studiert haben, sondern sie auch anzuwenden wissen. Niemand wird auf dem Parkett der Macht alleine deshalb erfolgreich, weil er Machiavelli, Balthasar Gracián, Sun Tzu, Schopenhauer oder Nietzsche studiert hat, sondern, nur, indem er die Fähigkeit erwirbt die Brücke zwischen den Plänen und der Realität zu schlagen. Diese Brücke heißt Strategie.
* Die Vorstellung, dass sich die Macht im Laufe der Geschichte gewandelt habe, ist falsch. Macht ist des Menschen Bedürfnis zu wachsen und sich zu entfalten. Dasselbe gilt auch für Staaten. Macht mag zwar ihr Gewand wechseln, doch ihr Kern bleibt immer derselbe.
* Das altrömische "Teile-und-herrsche" (divide et impera) existiert und funktioniert auch in unserer Zeit noch immer.


ANHANG:

Auszug aus der Rede des russischen Präsidenten Wladimir Putin auf dem Valdai-Forum, am 19. September 2013

"... eine weitere Herausforderung für die nationale russische Identität, hängt mit den Entwicklungen zusammen, die wir außerhalb  Russlands beobachten. Dazu zählen außenpolitische, moralische und andere Aspekte. Wir sehen, dass viele euro-atlantische Staaten einen Weg eingeschlagen haben, auf dem sie ihre eigenen Wurzeln verneinen, beziehungsweise ablehnen, einschließlich der christlichen Wurzeln, die die Grundlage der westlichen Zivilisation bilden. In diesen Staaten werden die moralischen Grundlagen und jede traditionelle Identität verneint; nationale, religiöse, kulturelle und sogar geschlechtliche Identitäten werden abgelehnt beziehungsweise relativiert. Dort wird eine Politik gemacht, die kinderreiche Familien mit homosexuellen Partnerschaften vor dem Gesetz gleichstellt;
Dort setzt man den Glauben an Gott mit dem Glauben an Satan gleich! Die Übertreibungen und Exzesse der politischen Korrektheit in diesen Ländern, führen dazu, dass sogar die Frage nach der Legitimierung von Parteien, die Propaganda für Pädophilie betreiben, ganz ernsthaft gestellt wird. Die Menschen in vielen europäischen Staaten schämen sich geradezu und haben regelrecht Angst offen über ihre Religionszugehörigkeit  zu sprechen. In Europa werden christliche Feiertage und Feste abgeschafft oder sie erhalten eine neutrale Umbenennung, so als würde man sich für die christlichen Feste schämen. Dadurch versteckt oder verheimlicht man den tieferen moralischen Wert dieser Feste. Und genau dieses Modell versuchen diese Staaten auf aggressive Weise den anderen Länder, und zwar weltweit, aufzuwingen. Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass dies der direkte Weg zur Herabwürdigung und zum Verfall der Kultur ist. Im Westen führt dies zu tiefen moralischen und demographischen Krisen. Was kann es denn für einen schlagenderen Beweis für die moralische Krise einer Gesellschaft geben, als die Einbüßung ihrer Reproduktionsfunktion?! Heute sind beinahe alle sogenannten "entwickelten" westlichen Staaten nicht mehr in der Lage sich reproduktiv zu erhalten. Und dies dazu noch trotz starker Zuwanderungsströme!
Ohne moralische Werte, die ihren Ursprung im Christentum und in anderen Weltreligionen haben, ohne die Normen und moralischen Werte, die  sich über Jahrtausende hin formiert und entwickelt haben, werden die Menschen unweigerlich ihre Menschenwürde einbüßen und damit zu Unmenschen werden (ihre Menschlichkeit verlieren). Deshalb halten wir es für natürlich und richtig die christlich-moralischen Werte zu wahren  und zu verteidigen. Das Selbstbestimmungsrecht von Minderheiten muss respektiert werden, doch das Recht der Mehrheit kann und darf nicht in Zweifel gezogen werden. Gleichzeitig zu diesen im Westen auf nationaler Ebene ablaufenden Entwicklungen, beobachten wir auf internationaler Ebene Versuche eine  unipolare, unifizierte Weltherrschaft zu errichten, durch welche internationales Recht und die Souveränität von Nationen relativiert oder gar
aufgehoben werden sollen. In einer solchen gleichgeschalteten Welt, gibt es keinen Platz mehr für souveräne Staaten. Alles was eine solche Welt noch braucht sind willfährige Vasallen! Aus historischer Sicht würde eine solche unipolare Welt die Aufgabe der eigenen Identität und der von Gott  geschaffenen Vielfalt bedeuten. Russland wird mit denen sein, die dafür eintreten, dass die wichtigen globalen Entscheidungen auf kollektiver Grundlage getroffen werden müssen und nicht im Interesse nur eines Staaten oder ein Gruppe von Staaten erfolgen. ..."

* Dieser Rede von Präsident Putin wurde in Europa nur wenig Beachtung geschenkt (durch die Mainstream-Medien überhaupt nicht), doch ist dies überaus bedauerlich, denn sosehr jeder Präsident die Interessen seines eigenen Landes vertritt und dies nicht unbedingt auch im Interesse anderer Staaten sein muss, so sehr müssen doch Augen und Ohren offen gehalten werden. So sollten solche kritische politische Äußerungen nicht durch Ignoranz oder Vorurteile abgetan werden, sondern einer eindringlichen Prüfung unterzogen werden. Wenn die Interessen Europas und Russlands auch kollidieren mögen, so sind die Worte des anderen nicht automatisch falsch oder von Propaganda geprägt. Auch hätte die europäische Bevölkerung ein Recht darauf zu erfahren, was andere, gerade auch nichteuropäische Politiker, von unserem Kontinent und unserem Gesellschafts- und Politikmodell halten. Denn nur dadurch entsteht ein lebhafter Diskurs, der im Geiste der Freiheit unsere Gesellschaft  stärker und unserer Demokratie noch prosperierender machen kann.  Es zeigt sich in dieser Rede deutlich die Gefahr einer vereinheitlichten Welt, die über kein Gegenmodell mehr verfügt und sich folglich nicht mehr weiterentwickeln kann und keinen Spiegel mehr hat, indem sie ihre eigenen  Fehler und Irrtümer aufgezeigt bekommt. Sosehr wir alle froh sind, dass der Kalte Krieg zuende ist, so hatte er doch den Vorteil, dass es zwei  dominierende Weltmodelle gab, die sich gegenseitig ihre Stärken und Schwächen vor Augen halten konnten. Sollte die Welt die Vielfalt verlieren und zu einem einheitlichen Gesellschafts- und Regierungssystem geführt werden, hätten wir keine Chance mehr unsere Gesellschaft, wie pluralistisch sie auch immer sein mag (auch Pluralismus ist ein einheitliches System), von außen zu betrachten und eine andere Perspektive einzunehmen. In einer einheitlichen Welt weiß niemand, ob wir auf dem Weg zum "Himmel" oder zur "Hölle" sind, da es keinen Maßstab mehr gibt, an dem man die Richtung erkennen könnte.

Der zweite Punkt in Putins Rede weist unmissverständlich auf die Gefahr des ethischen Relativismus' hin. Es ist zwar richtig, dass richtig und falsch in der Praxis oft sehr schwierigen Abwägungen unterworfen sind und nicht nach einem simplen einheitlichen Modell erfolgen kann, doch dürfen wir niemals vergessen, dass jeder "Relativismus" sich immer in einem absoluten Rahmen abspielt; ohne einen solchen schweben Normen im  Vakuum und niemand kann sich ernsthaft daran orientieren. Eine solche Ansicht führt unweigerlich zum Nihilismus. Wir dürfen moralische Dynamik und flexible Regeln nicht mit relativer Normativität verwechseln!  Zudem kann nicht einmal der ethisch abgestumpfteste Mensch, sofern er sich auch nur den geringsten Funken an Menschlichkeit bewahrt hat, die großen Verbrechen der Zeiten als nur relativ böse denken. Der radikale Relativist widerspricht sich selbst, denn er hat den Relativismus zum Absoluten erklärt - wie absurd so eine Ansicht ist, müsste jeden einsichtig sein. Relativismus ist ein Dogma, dessen Ursprung letztlich in der Metaphysik liegt (wie auch der Materialismus ein metaphysisches System darstellt).

Der dritte Punkt, der aus Putins Rede klar ersichtlich wird, ist der alte Rat, den man bereits in der Antike findet und von Machiavelli wieder aufgegriffen wurde, nämlich jener, dass ein Volk oder eine Gemeinschaft, um stark zu sein, immer wieder an ihren Ursprung zurückgeführt werden muss, mit ihren Wurzeln in Kontakt kommen muss. Stärke kommt für eine Gesellschaft immer aus der Tradition, aus der eigenen Geschichte heraus. Und wenn es etwas gibt, das Europa und den Westen eint, dann die gemeinsamen Wurzeln, die sich aus drei Quellen speisen: dem Monotheismus, der jüdisch-christlichen Tradition, dem philosophischen Geist der Griechen und aus der Staatskunst des Alten Rom. Sollten wir je vergessen wer wir sind, woher wir kommen und was vor unserer Geburt geschah, so sind wir dazu verdammt auf ewig naive Kinder zu bleiben.
 
 
 

Sonntag, 24. November 2013

Die Konferenz von Troppau

Am 15. Juli des Jahre 1820 wurde der erste Minister des österreichischen Kaisers, Clemens Fürst von Metternich, durch eine Depeche an das Sterbebett seiner geliebten Tochter Marie gerufen. Doch das war nicht die einzige Hiobsbotschaft des Tages. Eilig zurück ins Kanzerlamt beordert, erfuhr er von einem Militärputsch, der sich im Königreich Neapel ereignet hatte und dem greisen König Ferdinand IV. eine liberale Verfassung aufgezwungen hatte. Ähnliches war erst im Fühjahr in Spanien geschehen. Metternich war äußerst aufgebracht, denn der Fels in der Brandung, dem Mann, der wie kein anderer für Ordnung und das Monarchische Prinzip in Europa stand, verabscheute und fürchtete nichts so sehr wie die Revolution, von der er wusste, dass sie sich wie ein Lauffeuer über den ganzen Kontinent ausbreiten konnte. Zudem traf ihn die Nachricht aus Neapel völlig überraschend; im Mai noch hatten seine Informanten von der Halbinsel berichtet, alles sei ruhig und in bester Ordnung. Es galt die Heilige Allianz, den restaurativen Dreibund der monarchistisch-absolutistischen Staaten Österreich, Preußen und Russland, auf den Plan zu rufen.

Das erste Problem, das sich nun stellte, war, dass Preußen in Italien keine Interessen hatte und Russland verstimmt war, da beim Putsch in Spanien nicht interveniert worden war, wie Zar Alexander I. es gewünscht hatte. Nun waren vor allem Österreichs Interessen betroffen, Neapel konnte einen Flächenbrand in Italien auslösen und nationalistische Bestrebungen nach oben spülen - alles fatal für Österreich, das in Norditalien große Besitzungen (vor allem die Lombardei und Venezien) hatte, dessen Vielvölkerstaat notgedrungen  durch den Nationalismus zugrunde gegangen wäre. Nicht zu unterschätzen war zudem auch die Wirkung auf Deutschland, wo erst kurz zuvor die nationalen Bestrebungen vorerst erstickt worden waren (vor allem durch die Karlsbader Beschlüsse von 1819). All dies in  Betracht ziehend entschied sich Metternich die Angst bei den Fürsten Europas zu schüren. Frankreich hatte ebenfalls an einem  Eingreifen in Neapel ein Interesse, da König Ferdinand aus der Dynastie der Bourbonen stammte; allerdings war Frankreich, ebenso wie England, als Vertreter liberaler Verfassungen nicht unbedingt daran interessiert, dass Neapel zum Prinzip der absoluten Monarchie zurückkehrte. Frankreich drängte nun darauf, dass Österreich seine Hegemonie über Italien nicht noch weiter ausbauen könne und deshalb nur mit einem "Europäischen Mandat", das heißt durch Beschluss der "Pentarchie" (England, Frankreich, Preußen, Russland, Österreich), wie sie auf dem Kongress von Aachen bereits bestanden hatte, für Ordnung sorgen dürfe.
 
Auf Drängen des Zaren kam es zu einem Kongress, der Ende Oktober 1820 beginnen sollte und in der österreichischen Stadt Troppau (Schlesien) abgehalten werden sollte. Als die Delegierten und Monarchen in Troppau eintrafen, stellte sich bald heraus, dass aus den fünf vom Aachner Kongress nun drei werden sollten (Österreich, Preußen, Russland). England und Frankreich schickten lediglich Beobachter, bei denen im Falle Frankreichs noch nicht einmal Einigkeit untereinander herrschte. Damit war klar, dass das Monarchische Prinzip den Kongress dominieren würden, nachdem die Liberalen geschwächt waren. Darüberhinaus verhielt sich Preußen passiv und nahm mehr eine Staffagenposition ein. So blieben als entscheidende Kräfte Österreich und Russland übrig, das heißt genauer: Metternich und Zar Alexander.
 
Metternich, ein Mann des großen Wortes und der Überredungskunst, zog sich nun oft und lange mit dem Zaren zu Vieraugengesprächen zurück, in denen es ihm gelang den Zaren allmählich davon zu überzeugen in Italien einzumarschieren. Alexander war einst ein Liberaler  gewesen, der den Ideen moderner Verfassungen zugetan war. Metternich erkannte bald, dass davon nicht mehr viel übrig geblieben war; die Erfahrungen, die der Zar in Polen gemacht hatte und die Entwicklung in Europa hatten ihn immer konservativer werden lassen. Metternich lobte den Zaren ob seiner Einsichten und brachte ihn allmählich dazu daran zu glauben, dass Geheimgesellschaften den Umsturz der alten Ordnung überall in Europa betrieben (in Russland gab es zudem gerade einen Aufstand in einem vom Zaren sehr geschätzten Regiment). Man kam soweit überein, dass Österreich in Neapel die alte Monarchie wieder errichten sollte und gleichzeitig sollte ein allgemeines Interventionsrecht gegen alle Regierungen proklamiert werden, die durch Revolutionen an die Macht gelangt waren.  Alexander wandelte sich immer mehr zum christlichen Propheten, der sich als Werkzeug der göttlichen Vorsehung sah, um die monarchistische Weltordnung aufrecht zu erhalten. Metternich hatte wesentlichen Anteil daran, dass der Zar diese Richtung einschlug, zudem begann Alexander Metternich immer mehr zu bewundern.

So weit so gut. Doch es gab eine Schwierigkeit, die sich immer mehr heraustellte. Der einflussreichste Minister des Zaren war Herzog Capodistria, der griechische Wurzeln hatte und ein glühender Anhänger liberaler Ideen war und von einem Russland träumte, das bis zum Bosporus reichte, Griechenland den Osmanen entriss und es unter russisches Protektorat stellte. Metternich hingegen konnte weder mit liberalen Ideen etwas anfangen, noch konnte er im Interesse Österreichs Russlands Ausdehnung auf dem Balkan und darüber hinaus gestatten. Als zu dieser Zeit in Griechenland Aufstände gegen die türkische Besatzung ausbrachen, gelang es Metternich den Zaren davon zu überzeugen nicht zu intervenieren. Für Metternich endete die Zivilisation an den südöstlichen Grenzen Österreichs, der Balkan und Griechenland lagen jenseits der kultivierten Welt.  Der eigentliche Gegner Metternichs, Capodistria, war nun ausgemacht, den Zar, wenn er isoliert wäre, hatte Metternich in der Hand.

Der Kongress zog sich dahin und wurde zu Beginn des Jahres 1821 ins wärmere Laibach verlegt. Nun hatte Metternich die kluge Idee König Ferdinand selbst zum Kongress einzuladen. Wenn der König frei wäre, würde er zum Kongress kommen, wenn er von den Aufständischen an einer Ausreise aus Neapel gehindert worden wäre, hätte man es nicht mehr mit einer legitimen Regierung zu tun und Österreich hätte einen Grund mehr gehabt in Neapel einzumarschieren. Der König durfte reisen und damit wurde Capodistria, aber auch Frankreich, die Basis entzogen. Nachdem diese Gegner Metternichs unschädlich gemacht worden waren und König Ferdinand, ein schwacher, alter Herrscher war, der alles unterschrieb, was man ihm vorlegte, lief der Kongress, den Metternich propagandistisch in seiner Bedeutung noch aufbauschte, ganz nach Metternichs Vorstellung. Österreich marschierte ohne große Gegenwehr in Neapel ein (die Aufstände einiger Rebellen wurde sogleich niedergeschlagen). Die Monarchie alten Musters wurde wieder eingeführt, ergänzt um zwei Räte, die jedoch vom König frei bestimmt werden konnten.
 
Im Frühjahr 1821 brach die Revolution im Piemont aus, was jedoch von Metternich erwartet worden war - dieses Mal war er wachsamer gewesen. Am 8. April wurden die Aufstände bei Novara endgültig niedergeschlagen und Österreich marschierte in Genua, Turin und Alexandria ein. Damit war die Hegemonie Österreichs über Italien komplett, die Heilige Allianz, von Metternich auch die "Heilige Arche" genannt, glänzte. Metternich genoss nun beim Zaren noch mehr Respekt und es war nicht mehr schwer Alexander davon zu überzeugen, dass Frankreich mit seiner Armee, um in Spanien gegen die Revolution aktiv werden zu können, kein Mandat erhalten sollte, denn man könne
der französischen Armee nicht trauen, sie sei selbst von revolutionären Elementen durchsetzt. Österreich hatte seine Ziele durchgesetzt  und Metternich strahlte als "Kutscher Europas". Nach Beendigung des Kongressen wurde Metternich zum Staatskanzler ernannt, ein Amt, das seit dem großen Kaunitz (Kanzler Maria Theresias) vakant gewesen war.
 

LEKTIONEN

* Die besten Informationen sind jene, die man aus erster Hand gewinnt. Am allerbesten sind jene Informationen, die man durch persönlichen Augenschein gewinnt, am zweitbesten jene, die einem durch Vertrauensleute vor Ort auf direktem Weg mitgeteilt werden. Am  schlechtesten hingegen sind jene, die den "Instanzenzug" gehen, also die offiziellen Kanäle der Informationsbeschaffung.
 
* Hat man einen Feind ausfindig gemacht, muss man ihn vollständig unschädlich machen, es genügt nicht ihn nur zu schwächen.

* Man muss immer herausfinden welche Person die Machtdynamik kontrolliert. Diese muss man dann von der Basis abschneiden oder ihre Pläne auf andere Weise  unwirksam machen. Unterliege nicht der Illusion, dass diejenigen, die als die mächtigsten erscheinen es auch tatsächlich sein müssen.

* Sorge dafür, dass deine Kreuzzüge und Aktionen nach Möglichkeit den Anschein von Notwehr oder hoher Moral haben. Wenn du angreifst, stelle fest, dass du nicht als Aggressor dastehst.

* Uneinigkeit in den eigenen Reihen macht Erfolge am diplomatischen Parkett beinahe unmöglich.

* Durch geschicktes diplomatisches Vorgehen, durch ein redegewandtes, einnehmendes Wesen kann man so manchen Hardliner in einen Gemäßigten umwandeln oder auch umgekehrt. Wisse immer über den Charakter des anderen Bescheid und wie er zu  behandeln ist.


Samstag, 16. November 2013

Der Fall Joachim Murat

AUFSTIEG UND FALL
 
Im Herbst 1813 stand der große französische General, Marschall Joachim Murat (1767-1815), vor einem großen Problem. Erfolgreich auf dem Schlachtfeld und hoch dekoriert, hatte er Napoleons Aufstieg zur Macht mitgemacht und sich in Frankreich und Europa einen Namen gesichert. Er profitierte von den Eroberungen des französischen Kaisers, der ihn 1806 zum Großherzog der neu geschaffenen Herrschaft Berg in Westdeutschland gemacht hatte. Murat hatte die Schwester Napoleons, Caroline, geheiratet, wodurch die beiden Männer auch familiäre Bande miteinander teilten. Bald darauf war Murat bei der Verteilung Europas 1808 zum König von Neapel gemacht geworden, nachdem der  Bourbonenkönig Ferdinand IV. vom Thron gestürzt worden war. Murat hatte lange eine wichtige Regel der Macht befolgt, nämlich sich seinen Herrn nicht zum Gegner zu machen und diesem alle Ehre zu geben. Doch nachdem über eineinhalb Jahrzehnte lang Europa mit Krieg überzogen worden war, wurde immer mehr klar, dass Napoleons Kriegsführung nicht mehr so ausgezeichnet funktionierte wie noch einige Jahre zuvor. Glänzende Erfolge wie jene bei Ulm und Austerlitz (1805) und Jena/Auerstädt/Vierzehnheiligen (1806) wurden spärlicher und spätestens ab der sinnlosen und mit äußerster Gewalt geführten Expedition nach Spanien, war klar, dass Napoleons Herrschaft  sich ihrem Höhepunkt näherte oder diesen bereits überschritten hatte (Außenminister Talleyrand und Polizeiminister Fouché konspierierten 1808 gegen den Kaiser und erwägten sogar Murat zu seinem Nachfolger zu machen).
 
Nun aber hatte Napoleon das Fass zum Überlaufen gebracht. Nach seinem russischen Desaster im Jahre 1812, kam es im Oktober 1813 zur großen Völkerschlacht bei Leipzig, die überaus verlustreich war und die ganze Stadt Leipzig, mitsamt dem Umland mit (verwesenden) Leichen übersähte, so dass in der Stadt Seuchen ausbrachen.  Mit äußerster Kraftanstrengung war es den Alliierten, Preußen, Russen und Österreichern, gelungen Napoleon zu besiegen. Murat sah nun den Stern seines Meisters endgültig im Sinken und fürchtete um sein Königreich.  Deshalb entschloss er sich, sich von Napoleon zu trennen, was dann auch in Erfurt geschah. In Windeseile jagte er nach Süden und sann über seine Zukunft nach. Er sandte daraufhin eine Geheimboten nach Wien zum österreichischen  Staatskanzler Clemens Fürst Metternich. Murat bot nun den Alliierten seine Unterstützung im Kampf gegen Napoleon an, wenn ihm im Gegenzug sein Königreich Neapel belassen würde. Metternich, der zu diesem Zeitpunkt jede Hilfe gegen den  Usurpator Bonaparte gebrauchen konnte, unterzeichnete die entsprechende Vereinbarung. Damit hatte Murat Anfang 1814 endgültig Verrat am französischen Kaiser, seinem Herrn, begangen.
 
Noch im Jänner 1814 lässt Murat seine Maske fallen und marschiert in Rom und in der Toskana ein, kurz darauf überfällt er auch die Romagna. Auf dem Wiener Kongress (1814-1815) stellte der "Fall Murat" ein großes Problem dar, vor allem als es um die Neuaufteilung Italiens ging. Die alten Aristokraten, unter dem Geist der Restauration, der bereits am Kongress zu spüren war, waren sich einig den Emporkömmling vom neapolitanischen Thron zu stürzen und König Ferdinand seine Krone zurückzugeben. Doch welche Handhabe hatte man gegen Murat? Schließlich hatte man ein Jahr zuvor, im Eifer der Ereignisse und unter militärischen Gesichtspunkten, ihm sein Königreich garantiert. Da kam dem Kongress Murats hitziges Gemüt zuhilfe. Im Februar 1815 floh Napoleon von Elba und landete an der französischen Küste, von wo aus er über Grenoble ("route Napoleon")  nach Paris zu  marschieren im Begriff war. Murat entdeckte nun seine alte Zuneigung zu Napoleon wieder und schloss sich  diesem an. Im Juni 1815 wurde Napoleon endgültig im belgischen Waterloo geschlagen und unter englischer  Bewachung auf die verlassene Insel St. Helena im Südatlantik verbannt, wo er 1821 starb. Murat war nun in großer Not und floh, zuerst in die Provence, dann nach Korsika, bis er schließlich in Kalabrien strandete, wo  er aufgegriffen und standrechtlich erschossen wurde. In Neapel wurde der Bourbone Ferdinand als neuer alter König wieder eingesetzt.
 
 
INTERPRETATION

Murat war ein kluger Höfling, der es verstand seinen Meister nicht in den Schatten zu stellen. Lange Zeit war er ein Vertrauensmann Napoleons, der dessen Treue und militärische Verdienste überaus reich zu belohnen wusste. Doch es gab schon bald Anzeichen dafür, dass Murat weniger vertrauenswürdig war, als der Kaiser angenommen hatte, denn er beklagte sich ebenso wie Napoleons Bruder Joseph, der König von Spanien, über die mangelnde Eigenständigkeit seines Königreichs. Man sei nur ein Vasall Frankreichs und wolle mehr  Unabhängigkeit. Was das Großherzogtum Berg anbelangte, brachte Murat noch Verständnis auf,  schließlich befand sich Berg innerhalb des "Grand Empire". "Vergessen Sie nicht, dass ich Sie nur meinem System zuliebe zum König gemacht habe!" empfahl der Kaiser seinem Marschall. "Man ist nicht König, um zu gehorchen!" hatte Murat trotzig darauf geantwortet. Schon die Schenkung Neapels an Murat hatte einen Schönheitsfehler, denn Napoleon als Korse, der in starken Familienclankategorien dachte, hatte in erster Linie seine Schwester Caroline, Murats Frau, bedacht, wodurch Murat von Anfang an gekränkt war. Die Ehe mit Caroline war denn auch eine sehr schlechte. Weitere Eingriffe Napoleons in die Herrschaft des Königs von Neapel folgten: Er verbot Murat Botschafter zu ernennen und untersagte Franzosen einen Treueeid auf Murat abzulegen. Letztere Maßnahme  führte zu einer "Nationalisierung" des Adels, denn bis dahin hatte die Aristokratie sich als kosmopolitische Gesellschaft gesehen, die wie die "Hirten" über die "Herden" wachte, wobei die "Schafe" stets austauschbar waren und die "Nation" keine Rolle gespielt hatte, ja noch weitgehend unbekannt war. Murat seinerseits ergriff Zollmaßnahmen gegen Frankreich und umgab  sich mit "verdächtigen" Italienern, die antifranzösisch eingestellt waren und Murat mit der Idee eines vereinten Italien vertraut machten und in ihm entsprechende Wünsche geweckt hatten.  Murat durchbrach selbst mehrfach die Kontinentalsperre, die jeden Handel des Kontinents mit England untersagte.  Die von Napoleon geforderten Reformen (z.B. der "Code Civil") wurden von Murat nur halbherzig durchgeführt. Dieser Geist der Rebellion und das Sich-beliebt-machen-wollen bei der  eigenen, neapolitanischen, Bevölkerung führten letztlich zum Verrat. 
 
Als Napoleons Stern im Sinken begriffen war, trennte sich Murat brutal von ihm und half sogar mit ihn zu Fall zu bringen. Auch das ist ein Gesetz der Macht, das er eingehalten hatte. Im weiteren Verlauf machte Murat jedoch einige sehr  entscheidende Fehler. Er hatte zwar auch schon bisher militärische Fehler begangen, indem er sich beispielsweise gegen den Befehl Napoleons zu direkten Frontalangriffen hinreißen ließ, was zu großen Verlusten führte und  manchmal nur vom Kaiser selbst ausgebügelt werden konnte. Hätte Murat sich in Neapel still verhalten und sich mit seinem Königreich begnügt, wäre er möglicherweise, trotz der Abneigung der europäischen Mächte (vor allem Englands und Frankreichs) auf seinem Thron geblieben. Hätte er nicht versucht weitere italienische Gebiete für sich zu beanspruchen (wie etwa Teile des Kirchenstaates), hätte es möglicherweise sogar eine Einigung am Wiener Kongress gegeben (Metternich schützte Murat eine Zeitlang, was von den anderen Alliierten als Schwäche des Kanzlers ausgelegt wurde). Erst Murats Hitzköpfigkeit und seine falsche Einschätzung der Stärke Napoleons 1815, brachen ihm das Genick. Nun war es für seine Gegner ein Leichtes ihn vom Thron zu entfernen und ihn hinrichten zu lassen.


LEKTIONEN
* Die Beherrschung der Gefühle ist der Schlüssel zur Macht schlechthin. Das heißt vor allem auch sich nicht blenden zu lassen von einer charismatischen Persönlichkeit, die aufgrund einer Kombination von Glück und Fähigkeiten übermenschlich erscheint.
* Die Realität immer als das sehen, was sie wirklich ist.
* Die Dinge bis zum Ende durchdenken, einen möglichst weiten Blick in die Zukunft entwickeln.
* Wissen wann man seinem Meister folgen muss und wann nicht.
* Mann muss wissen, wann man dabei ist eine Sache zu übertreiben und muss sich selbst Einhalt gebieten.
* Erkennen was der Zeitgeist ist, besonders all jenes, was noch unter der Oberfläche liegt.