Sonntag, 22. Dezember 2013

Die Notwendigkeit die Dinge zu Ende zu denken

Seit spätestens dem Herbst 2008 befindet sich die Welt in der so genannten „Finanzkrise“, auf die eine Wirtschaftskrise folgte, deren Tiefe und Dauer noch unbekannt sind. Was zweifelsohne in der Natur der Sache selbst liegt. Zwar ist die Nacht vor Tagesanbruch immer am dunkelsten, aber wann dieser Zeitpunkt gekommen ist, weiß man nie dann, wenn man ihn erlebt, sondern immer erst im Nachhinein.

Das Gejammer ist groß und die Suche nach Schuldigen hat sogleich begonnen und entsprechende Leute schienen auch schnell ausfindig gemacht worden zu sein. Einige wenige Einzelpersonen, aber umso mehr Kollektive, ganze Gruppen von Menschen, scheinen alleine verantwortlich zu sein. Wie einfach gestaltet sich doch dann die Welt? Doch diejenigen, die eine solch unausgegorene Ansicht vertreten, müssen enttäuscht werden. In Wahrheit ist durch die Verbundenheit aller Menschen, auch jeder an allem beteiligt, was von irgendeinem getan wird. Oder wie Dostojewskij es ausdrückte: „Jeder Mensch hat Anteil an den Verbrechen aller anderen.“ Wer ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein. Einen solchen `Sündlosen´ hat es nie gegeben und wird es auch niemals geben.

Das Leben ist eine Aneinanderreihung von Entscheidungen, die getroffen werden, und es gibt in jeder Lage mindestens zwei Dinge, zwischen denen man wählen kann. Es hat nie einen Menschen gegeben, der nicht wählen konnte. `Man habe etwas müssen´ oder die altbekannten Sachzwänge, sind nur billige Ausflüchte. Sie sind sozial akzeptiert, man hat damit gute Chancen mit unverantwortlichem Handeln durchzukommen, gibt es doch einen breiten Konsens darüber, dass man sich so aus der Affäre ziehen kann.

In Wahrheit muss niemand auf dieser Welt irgendetwas müssen. Dies gilt in seiner brutalsten Absolutheit und schließt sogar die Entscheidung leben zu wollen, oder nicht, mit ein. Denn das Leben ist auch eine Entscheidung, die man ständig aufs Neue trifft. Niemand muss leben, der Mensch könnte sich auch immer dagegen entscheiden, tut es aber (zum Glück) meist nicht. Aber mit der Entscheidung zu leben, haben wir auch die Verantwortung für den Tod übernommen. Wer leben will, willigt implizit auch ein zu sterben. Das eine kann ohne das andere nicht sein. Das Sterben abzulehnen ist ein Akt der Verantwortungslosigkeit.

Daran sieht man auch, welche unglaubliche Macht der Mensch, und zwar nicht nur das Kollektiv, sondern jeder einzelne als Individuum, hat. Niemand ist Opfer oder machtlos, wenn man sogar die Macht hat, nicht leben zu müssen. Das sollte man sich stets vor Augen halten.

Das bringt mich zu einem viel diskutierten Thema. Menschen glauben Opfer zu sein, Opfer von Umständen, und vor allem von anderen Menschen. Dabei handelt es sich im Grunde um nichts anderes, als die Verweigerung der Verantwortung für die eigenen Entscheidungen zu übernehmen, die man getroffen hat. Sicher, wenn man eine Entscheidung trifft, gibt es Konsequenzen, die man absehen kann und solche bei denen man dies nicht kann. Nichtsdestotrotz ist man für beides verantwortlich. Man muss auch für die Dinge einstehen, die aus dem eigenen Handeln folgen, auch wenn man sie nicht gewollt respektive vorhergesehen, hat. Was die Frage nach der Schuld (im juristischen Sinne) allerdings unberührt lässt. Niemand kann Schuld an seinem eigenen Unglück sein, aber kausal ist man in jedem Fall und daraus folgt auch die entsprechende Verantwortung.

Was bedeutet dies alles nun in Bezug auf die Situation an den Finanzmärkten? Ich gehe hier nur auf die Anleger ein, die viel Vermögen verloren haben, und lasse in diesem Eintrag die weiterreichenden Aspekte (auf Gesellschaft, Politik etc.) außen vor.

Meine eigene Tätigkeit an den Finanzmärkten hat mir vielfältige Erfahrungen gebracht. Die wertvollsten dabei hatten mit Menschen und mit menschlichem Verhalten zu tun. Es ist erstaunlich, wie sorgfältig und aufwendig Ansparpläne geschmiedet werden. Der Einstieg wird ganz genau geplant, der Ausstieg auf der anderen Seite wird meist stiefmütterlich behandelt, oder überhaupt vergessen. Vor allem Privatanleger, welche Berater habe, verfügen oft überhaupt über keine Exit-Strategie. Man weiß nur, wie man in den Markt hineingeht, aber nicht wie man die Sache beendet und sich wieder (nach Möglichkeit gewinnbringend) verabschiedet.

Eine Strategie ist niemals vollständig, wenn sie keine Ausstiegsszenarien beinhaltet. Bei welchem Kurs wird verkauft? Darauf wissen nur allzu viele keine Antwort. Man hat einem gesagt, man soll sparen und regelmäßig kaufen, der Cost-Average-Effekt würde langfristig sehr gute Ergebnisse erzielen. Das setzt aber immer voraus, dass die Börsen langfristig nach oben gehen. Dann werden einem Grafiken und Charts gezeigt, versichert dass seit 1930 und bereits lange davor, die Kurse immer gestiegen seien. Das trifft freilich nur auf die Indizes selbst zu. Viele Unternehmen des DJIA zum Beispiel existieren heute nicht mehr, obwohl sie oft Jahrzehnte darin enthalten waren. Man vergisst auch, dass 1929 der Dow bei 381 Punkten stand und erst 25 Jahre später, 1954, wieder denselben Wert erreichte. Es gab an den Börsen furchtbare Zeiten, wo Geld hauptsächlich nur durch Leerverkäufe zu machen war, und es gibt keine Sicherheit, dass die Entwicklung die sich in der Vergangenheit gezeigt hat, auch in Zukunft fortsetzen wird. Die Menschen neigen immer dazu die Vergangenheit in die Zukunft zu projizieren, große, fundamentale Veränderungen entgehen ihnen dagegen fast immer. Die Zukunft kann alles oder nichts beinhalten. Halten Sie immer beides für möglich und bauen Sie Ihre Strategie nicht auf fixe Annahmen auf. Das einzige, was wirklich zählt, ist das Hier und Jetzt. Die einzige Strategie, die (langfristig) funktioniert, ist jene die im Augenblick entsteht und sie muss sich immer an der Wahrnehmung im Augenblick orientieren. Das ist das einzige, was wirklich gewiss ist. Das soll aber niemals heißen, dass keine Pläne geschmiedet werden sollten. Aber der Plan ist nie die Wirklichkeit, sondern lediglich ein Muster im Kopf, das als Leitlinie verwendet werden kann.

Napoleon war ein großer General, weil er diese Kunst beherrschte und seine Pläne völlig beiseite lassen konnte, um jede Chance zu ergreifen, die sich auf dem Schlachtfeld gerade bot. Obwohl er viele Dinge mit unglaublichem Scharfblick vorhersehen konnte, war er bereit von seinen Vorstellungen sofort abzurücken, wenn sich das Geschehen vor Ort anders verhielt als er es erwartet hatte.

Miyamoto Musashi, der berühmte japanische Samurai, war dafür bekannt, seine Strategie nie zu wiederholen. Niemand konnte ihn einschätzen, er änderte stets sein Verhalten, er übte seine eigene dynamische Schwertkunst, die er „Niten-ichi-ryû“ nannte, die keiner Schule folgte. Alles ergab sich immer nur aus dem Augenblick heraus und er blieb zeitlebens damit unbesiegt.

Mao verbot seinen Leuten Bücher ins Feld mitzunehmen. Bücher lenken oft vom Leben ab und machen den Leser untauglich das Leben zu leben und zu bemeistern. Viel zu wenig ist über die negative Seite des Lesens bekannt. Lesen kann zur Sucht und Wirklichkeitsvermeidung werden, zudem wird das Hirn mit Ideen voll gestopft (die ja nicht die eigenen sind), wird hypnotisiert, es glaubt der Leser oft mehr an die Realität seines Denkens als an die Realität der Sinneswahrnehmung. Lesen ist manchmal eine Droge mit schweren Folgen, die so verheerend sein können, wie jene von Heroin. Hüte dich vor den Menschen, die zu viele Bücher lesen!

Der gewöhnliche Mensch meidet die Erscheinung, nicht aber den Gedanken an die Erscheinung. Der Weise meidet nicht die Erscheinung, sondern den Gedanken an sie. Wenn die Gedanken im Kopf mit der Wahrnehmung nicht übereinstimmen, ist es richtig den Gedanken zu ersetzen und nicht die Wahrnehmung zu leugnen.

So viel zur Strategie im Allgemeinen. Im Besonderen, was die börsentechnische Ausstiegsstrategie betrifft (um noch einmal darauf zurück zu kommen): Man sollte ebensoviel, wenn nicht mehr, Zeit für den Ausstieg aufwenden wie für den Einstieg. Dabei muss man achtsam die Dynamik der Ereignisse verfolgen und stets seine eigenen Meinung haben, die sich oft von der der Berater unterscheiden wird müssen. Gewinne sind erst dann Gewinne, wenn man verkauft hat. Buchgewinne sind nie reale Gewinne, sondern Gedanken von Gewinnen. Der Ausstieg sichert einem also den Gewinn, das ich wichtig zu begreifen.

Cost-Average dient vor allem den Vermögensverwaltern, weil sie so ständige Kapitalflüsse generieren können und das ist das Hauptanliegen der Branchen, es geht darum die Kapitalvolumina zu steigern und damit die Provisionen, nicht die Performance der Anlage.
Charts sind nur insofern interessant, als dass man versteht, wie es zu einer Entwicklung gekommen ist. Ein Arzt erstellt auch keine Diagnose anhand der Fiberkurve eines Patienten. Er kann auch nicht sagen, `das Fiber ist von vierzig auf einundvierzig Grad gestiegen, in zwei Tagen ist der Patient tot´. Er muss wissen, was dem Fieber zugrunde liegt, nur dann kann die Diagnose korrekt sein.

Die Verantwortung für Gewinn und Verlust liegt aber bei jedem selbst. Die Tatsache, dass man einen Berater hat oder einen Vermögensverwalter, entbindet einen nicht der Verantwortung für seine Performance. Die Entscheidung trifft man ja schließlich selbst. Man ist auch dafür verantwortlich, wen man als Berater, respektive Vermögensverwalter, wählt. Sieht man sich außer Stande diese Leute einzuschätzen zu können, oder selbst an den Märkten tätig zu sein, dann darf man am Spiel eben gar nicht teilnehmen.

Wenn ein Greenhorn sich mit Profis an den Pokertisch setzt und alles verliert, trägt er die volle Verantwortung für seinen Verlust und zwar selbst dann, wenn die anderen verbrecherisch handelten (sprich betrogen) haben. Ebenso an der Börse. Wenn Sie jemandem Geld anvertrauen und der ihnen falsche Tatsachen vorspielt, wodurch sie Verluste machen, so sind sie auch dafür voll verantwortlich. Es gibt kein Entrinnen. Die Verantwortlichkeit im Leben ist allumfassend und unbedingt. Einer der ältesten Mythen der Menschheit muss endlich fallen, nämlich jener, dass es Menschen gäbe, die Opfer geworden seinen. Opfer hat es nie gegeben und wird es niemals geben.

Das Leben ist ein großes kosmisches Spiel, das wir alle selbst gewählt haben (keine `Geworfenheit´ à la Heidegger), also spielen wir es recht!
 
Karl Ritter
 
 

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